Ich
hatte im Juni bereits ein wissenschaftliches Experiment unternommen, um
Pflanzen zu verstehen. Dabei hatte ich – wie angeraten – an den Wurzeln
gelauscht. Meine charmanten Versuchskandidatinnen waren zwei Orchideen, das
Goldstück und Rapunzel, wie sich der eine oder andere Leser erinnern wird.
Nun ein Bild von Rapunzel heute. Der Fortschritt ist
vielleicht nicht für jedermann klar erkennbar, aber es ist ein stolzes neues
Blatt hinzugekommen. Das sind kleine Erfolge, aber auch die zählen. Verstehen
kann ich Rapunzel zwar noch immer nicht, aber es liegt nicht, wie ehedem
angenommen, an meinem Hörvermögen, sondern muss auf ein traumatisches Ereignis
zurückzuführen sein. Denn ich bin Rapunzels Geschichte nachgegangen.
Von
Cara erfuhr ich, dass sie Rapunzel gerettet hat. Irgendein garstiger Mensch
hatte sie auf eine Mülltonne gestellt, quasi der Entsorgung überantwortet.
Rapunzel hatte nur noch ein Blatt, wenige Wurzeln und natürlich keine Blüten. Ich
frage meine Leser, macht man so was? Die Pflanze lebte doch noch! Wer sich mit
Orchideen beschäftigt, der weiß, dass es Geduld erfordert, um zu sehen, wie sie
wieder aufblühen. Cara hat zwar Rapunzel gerettet, doch die Sprache hat die
Pflanze noch nicht wiedergefunden. Man weiß es ja, beispielsweise aus dem Film
„Das Geisterhaus“, traumatische Geschehnisse haben auf sensible Wesen eine
tiefe Wirkung und können zu Sprachlosigkeit führen, auch Mutismus genannt. So erging es in dem Film Clara, die
unbeabsichtigt Zeugin der Obduktion ihrer Schwester wurde. Kann man schon
nachvollziehen, dass es da jemandem die Sprache verschlägt.
Ähnlich
wird es bei Rapunzel gewesen sein, als man sie aussetzte. Vor einer Woche noch
im wohlig warmen Wohnzimmer von allen Besuchern ob der Blütenpracht bewundert,
nun der Gesellschaft für nicht mehr würdig befunden. Das ist ein Schock. Da
fühlt man doch mit. Ich sehe es aber als ein gutes Zeichen an, dass Rapunzel
erst die vielen Wurzeln und jetzt ein Blatt hervorgebracht hat. Ganz
unbeteiligt bin ich daran aber nicht. Ich habe jeden Tag nach ihr geschaut und
Dinge gesagt wie: „Lass mich dein Esteban Trueba sein und ich werde für dich
sorgen, was immer dir auch fehlt.“ Ja, so romantisch kann ich sein, das hätte
vielleicht der eine oder andere nicht vermutet. Ich bekam zwar erst mal keine
Antwort, doch eines Tages erblickte ich, wie sich da so ganz klein das winzige
Blatt im frischen Grün zeigte. Na, wenn das kein Zeichen ist. Nun warte ich
geduldig auf ihren ersten zaghaften Klicklaut, mit dem sie sich mir in
Dankbarkeit mitteilt.
Mein Rapunzelchen |