Heute muss ich mich nicht verstecken |
Vor drei Tagen kam Gina vorbei.
Das ist die Kreative unter Caras Freundinnen. Sie brachte ihre
Wohnungsschlüssel, damit Cara sich während ihres Urlaubs um die Pflanzen kümmert.
Als sie sagte, dass sie nach Marseille und später noch ins Hinterland nach
Aix-en-Provence und zu anderen Orten fahren wolle, war es mit Heinrichs Fassung
vorbei. Er wollte mit, so unbedingt, als ginge es um sein Leben. Und er durfte auch
mit. Ich rief ihm noch schnell hinterher: „Und freue dich schon mal auf den
Flohmarkt in Isle-sur-la-Sorgue!“, dabei weiß ich genau, dass Gina niemals
über solch einen Markt gehen wird. Der alte Plunder interessiert sie nicht die
Bohne. Sie wird nach Saint-Paul-de-Vence fahren und die dort ausgestellte Kunst
der Stiftung Maeght bewundern. Doch das kann Heinrich ja selbst herausfinden.
Ich bin jetzt schon gespannt, ob sein Herz für Giacometti schlägt.
Nun war mein Bruder gerade mal zwei Tage weg und schon
vermisste ich ihn. Das hätte ich nicht gedacht, wo wir doch so verschieden sind.
Gestern wurde ich richtig trübsinnig, obwohl die Sonne schien. Als Cara meine Stimmung bemerkte, beschloss sie, mit mir die Stadt zu erkunden. Da sie weiß, dass ich nicht so gut zu Fuß bin,
haben wir die U-Bahn genommen. Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich mit
der U-Bahn fuhr, aber das erste Mal, dass ich nicht als blinder Passagier unterwegs
war. Denn zuvor hatte ich mich ja immer heimlich in Caras Tasche versteckt. Ja,
ich muss mir hier schon so manche Dinge ertrotzen, sonst komme ich nirgendwohin.
Nun aber hatte ich erstmals freie
Sicht, auch auf die anderen Fahrgäste. Viele hatten richtig schlechte Laune, kein
Lächeln auf dem Gesicht, Sorgenfalten auf der Stirn, die Mundwinkel hingen nach
unten. Denkt man ja nicht, dass so viele Menschen so großen Kummer haben. Einige gähnten mit offenem Mund, sodass man sehen konnte, dass sie nicht viel Massel beim Zahnarzt hatten. Verwundert war ich, als an einer Station ein
Mann mit seinem Fahrrad hereinkam. Er trug einen Helm, wie es sich gehört, und
einen farbenfrohen engen Dress, Sonnenbrille über dem angestrengten Blick. Genauso
wie die Fahrer bei der Tour de France. Das habe ich nicht verstanden. Die Sonne
schien doch und er wollte Sport machen. Nun fuhr er mit der U-Bahn statt mit dem Rad.
Die meisten der Fahrgäste haben mich
gar nicht beachtet. Und ich dachte, ich falle ganz bärig auf. Das war schon ein
bisschen enttäuschend. Doch sie waren alle sehr beschäftigt, die meisten mit
ihrem Smartphone. Ich habe die Fingerfertigkeit sehr bewundert, eine SMS nach
der anderen. Das muss man erst mal hinbekommen. Einige haben aber auch
telefoniert, manchmal ziemlich laut. Da konnte man schöne Geschichten erfahren.
Eine Frau hat mit ihrem Mann geschimpft. Ein paar ihrer Worte kannte ich nicht und wollte sie mir
von Cara erklären lassen. Die sagte aber immer nur ganz leise zu mir: „Später,
Zottel, später“. Nur zu später kam es dann nicht mehr, denn mit einem Mal hörte
ich über den Lautsprecher: „Nächste Haltestelle Eppendorfer Baum. Wenn Sie’s schön
haben wollen, dann steigen Sie hier aus.“ Na, da kann man doch nicht nein
sagen. Wir also raus aus der Bahn und rein ins Balzac Coffee. Ich habe eine
Schokolade getrunken, für Cara gab es eine Latte Caramel. Irgendwie könnte ich mir vorstellen,
wenn ich jeden Tag in solch ein Café ginge, würde ich vielleicht auch ein so
berühmter Schriftsteller wie Balzac. Nur um dort zu schreiben, bräuchte ich ein iPad oder zumindest ein Netbook. Als ich Cara daran erinnerte, meinte sie,
Balzac habe das auch ganz ohne iPad hinbekommen. Bleistift und Kladde reichten
da völlig aus. Irgendwie ist sie manchmal von gestern. Damit kann sie mir die
ganzen kreativen Ideen vermiesen.