Zwei Brüder - zwei Meinungen |
Mein Bruder ist ziemlich verwöhnt.
Er will weg. Nicht für immer, aber verreisen will er, an einen schönen
Ferienort. Er kennt das nicht, dass man im Sommer in der Stadt bleibt. Als
Jens, der Junge, bei dem er lebte, noch klein war, verreiste man oft und Heinrich durfte immer mit. Dann ging
es mit der Familie nach Italien, Spanien, einmal sogar in die USA. Das war wohl
das absolute Highlight für Heinrich, denn er war im Disneyland und hat Mickey
Mouse gesehen. Wenn man mich fragt, hat er sich in Daisy Duck verliebt, aber
das gibt er natürlich nicht zu. Nun will er da wieder hin. Cara hat dicke
Backen gemacht, also eigentlich hat sie wieder Dackelfalten gemacht, wie sie es
immer tut, wenn ihr was gegen den Strich geht. Sie hat nun mal nicht das Geld,
um mit uns in Urlaub zu fahren. Für mich ist das nicht so schlimm, aber
Heinrich ist da mehr Abwechslung gewohnt. Ja, so unterschiedlich können
Zwillingsbrüder sein.
Mir gefällt's auf dem Balkon |
Ich finde es supertoll auf dem
Balkon. Schließlich habe ich ihn nicht umsonst so liebevoll bepflanzt. Heinrich schnuppert ab und zu an den
Lavendeltöpfen und sagt: „Na ja, ist ein leichter Vorgeschmack auf eine Reise
in die Provence.“ Er hat es noch immer nicht kapiert, dass das in diesem Jahr nichts
wird. Er blättert in Reiseführern und faselt von der Zitronenstadt Menton. Was,
bitte, will er mit Zitronen, die sind ihm doch viel zu sauer? Dann wiederum
möchte er die Ockerfelsen in Roussillon sehen. Da habe ich ihm gleich gesagt,
dass er sich das nicht zu romantisch vorstellen soll. Einmal durch die
Ockerfelsen gestapft und das Fell an seinen Tatzen ist blutrot, als habe er
sich gerade die Ferse abgehackt, wie eine der bösen Schwestern bei
Aschenputtel. Das kann er doch nicht wirklich mögen! Doch er bleibt hartnäckig
und ich muss mir sagen lassen: „Zottel, du hast ja keine Ahnung, wenn du einmal
in Nizza einen Loup de mer oder eine Bouillabaisse gegessen hast, dann vergisst
du alles, was du jemals über Lachs gehört hast.“ Was für ein elender Snob, mein
Bruder! Ich hoffe nur, mein Freund Fritz liest jetzt diese Zeilen nicht. Er brät
mir doch immer diese leckeren Lachsfilets.
Heute regnet es hier in Strömen,
Heinrichs Laune ist entsprechend schlecht. Als er vorhin anfing, mir seufzend
etwas von dem strahlend blauen Himmel an der Côte d’Azur vorzuschwärmen und von der
Sonne, die dort so wohlig auf den Pelz brennt, hat es mir gereicht: „Wenn du
nicht gleich mit deinem arroganten Getue aufhörst, weht dir hier drei Tage lang
der Mistral um die Ohren, dass dir Hören und Sehen vergeht.“ Für alle, die es
nicht wissen, der Mistral ist ein kalter Nordwind, der manchmal in die Provence einfällt und bei Mensch und Tier eine
gereizte Stimmung auslöst. Um ehrlich zu sein, das mit der Stimmung klappt hier auch ganz ohne
Mistral.