Montag, 21. März 2016

Zottel, ein Sentimentalist


Gestern war ich ganz legal unterwegs
Gestern war der Tag, an dem sich Cara von ihrer Kastanie trennen musste. Für alle, die es vergessen haben, sie gehört der Kastanienbewegung an und zum Frühjahrsbeginn trennt man sich von dieser treuen Begleiterin, die über die Wintermonate immer in der Manteltasche mitwanderte.  

Also ging ich mit Cara zum Kanal. Sie holte schon aus, um die Kastanie mit Schwung ins Wasser zu werfen. Es blieb mir gerade noch Zeit, stopp zu rufen. „Schau doch, dass da keine Enten entlang schwimmen und sich erschrecken!“ Ich muss aber auch auf alles aufpassen. Nach dem Wurf drehte ich mich abrupt um und musste darüber nachdenken, was wohl nun mit der Kastanie passierte. Wie würde es ihr gehen in dem noch recht kühlen Wasser? Würde sie vor Kälte noch mehr schrumpeln oder gar aufplatzen und in ihre Einzelteile zerfallen? Würde ein Tier kommen und sie fressen? Es machte mich traurig, weil ich es nicht wusste.  Mein Bruder wusste es auch nicht, sagte aber, ich sei ein Sentimentalist. Dann blickte er wieder konzentriert in seine Kochbücher. 

Cara sah mich nachdenklich an und meinte: „Zottel, du denkst zu viel!“, setzte mich sanft in ihre rosa Tasche, die sie immer im Frühling und Sommer nimmt. Das hat sie noch nie gemacht, mich da hineingesetzt. Normalerweise muss ich mich hineinschmuggeln. Dann ging es los, ab zur U-Bahn-Station. Wir fuhren die Isestraße entlang und sie zeigte mir all die Kastanienbäume. „So, Zottel, und solche Fahrten unternehmen wir jetzt häufiger. Dann kannst du sehen, wie schön sie bald blühen.“ Als ob ich das nicht wüsste. Nur gestern war überhaupt noch nichts zu sehen. Doch sie plauderte unbeirrt weiter: „Danach bilden sich dann aus den Blüten die Früchte und – ach, die Zeit vergeht ja immer so schnell – die  fallen dann mir nichts, dir nichts reif vom Baum, platzen auf und heraus kommen wieder wunderschöne Kastanien.“ Das sollte mich wohl trösten. Um mir diese U-Bahn-Fahrten noch schmackhafter zu machen, sagte sie: „Zwischendurch legen wir auch mal einen Halt ein und du kannst Ludwig besuchen. Der sitzt nämlich immer noch einsam in dem Geschäft. Und ich kann mir dort eine neue Gießkanne für meinen Balkon kaufen, denn die alte leckt.“ „Oh“, sagte ich, „die schöne gelb-grüne Gießkanne ist kaputt? Wie schade!“ „Ja, die muss man jetzt entsorgen.“„Nein, die wird nicht entsorgt!“, entfuhr es mir. „Nicht immer diese Abschiede! Die wird mit Erde befüllt und dann kann man da ein paar fröhliche rote oder orangefarbene Pflanzen hineinsetzen.“  
Diese Kanne wird nicht weggeworfen!

Ich muss mich aber auch um alles kümmern, nur nicht ums Essen, denn mein Bruder hatte schon für den gestrigen Abend ein Frühjahrsmenü zusammengestellt. Wir würden chinesisch essen. Dem Anlass entsprechend sollte es Frühlingsrollen geben und als Hauptgericht Hühnchen mit Baumbussprossen und Wasserkastanien. „Nein!“, rief ich. „Und nochmals nein! Ich esse doch heute keine Wasserkastanien! Dir mangelt es an Feingefühl!“ Mein Bruder stöhnte und lenkte ein: „Na gut, dann gibt es Brokkoli dazu. Ich vergaß, mein Bruder ist ein Sentimentalist.“