Dienstag, 20. Oktober 2015

Die Flucht aus dem eigenen Zuhause


Mein Bruder hält es hier nicht mehr aus. Ihm ist langweilig und er will nach Süddeutschland. Er braucht einen Tapetenwechsel und will Jens  in Freiburg besuchen. Ich kann das nicht verstehen, denn Jens wird ihn nicht gastfreundlich aufnehmen. Das hat er vor einem Jahr nicht getan und wird es auch heute nicht tun, denn manche Menschen lernen nichts dazu. 

Da ich es mit meinem Bruder gut meine, habe ich alle meine Argumente ins Feld geführt, um ihn von dieser bekloppten Idee abzubringen. „Sei doch froh, dass du im Warmen sitzt und zu essen hast. Andere Tiere werden von Menschen gejagt oder ihnen wird der Lebensraum genommen. Und Menschen machen es  untereinander nicht anders. Die suchen dann keine neuen Eindrücke, sondern ein neues, sicheres Zuhause. Du hast ein Luxusproblem mit deinem: Ich muss hier mal raus!“ 

Heinrich sah mich mit großen Augen an. Doch ich war noch nicht fertig mit ihm und seinen blöden Einfällen: „Dir ist es immer viel zu gut gegangen. Dich haben sie sofort in ein kuscheliges Zuhause zu einem  - zumindest damals noch  - lieben kleinen Jungen gebracht. Für mich dagegen gab es eine Weile nur das Leben auf der Straße in einem Sonderangebotskorb für ausgemusterte Jahresbären, und das mitten im Winter. Aus diesem Grund bin ich auch dankbar, dass ich hier leben kann, dass Cara mich mitgenommen hat. Ich ziehe aus Dankbarkeit auch dieses alberne Jäckchen an, das sie mir gestrickt hat. Sie hat es lieb gemeint und kann nun mal nicht besser stricken. Doch Dankbarkeit ist ja auch etwas, das viele gar nicht mehr kennen. Und falls du dich wunderst, warum ich dicker bin als du, ich esse immer einen Happen auf Vorrat. Denn man kann nie wissen, was morgen ist.“ 

Jetzt erwachte Heinrich aus seiner Schockstarre und legte los: „Moment mal, Bruderherz, schließlich hat mich Jens auch ausgesetzt, hat mich auf ein Mäuerchen gelegt und ist gegangen, einfach so. Meinst du, ich hätte mich nicht verlassen gefühlt?“ Ich fuhr dazwischen: „Wohl nicht verlassen genug und vor allem nicht lange genug. Und du hast schon gar nicht bei bitterer Kälte im Freien gelebt, sondern im Sommer, falls du dich erinnerst. Denn kaum hocktest du auf der Mauer, kam Uwe vorbei, hat dich mitgenommen und gepflegt.“  

Das Freiburger Bärle hatte unseren Streit mitbekommen und wollte schlichten. „Ja, ich würd halt auch gern wieder in meine Heimat. Nur zum Jens will ich nicht, der war nicht gut zu mir. Ich würde nur allzu gern wieder mal Schäufele essen oder Spätzle oder Knöpfle und Flädle-Suppe. Besonders fehlen mir aber die Herrgottsbescheißerle.“ Da leuchteten Heinrichs Augen. „Ja, Essen ist Heimat. Doch das kannst du ganz leicht auch hier bekommen.“ 

Klar, wenn irgendetwas klappt in diesem Land, dann ist es das herzliche Willkommen fremder Küchen und Gerichte. Meine Argumente haben zwar nichts bewirkt, aber Heinrich ist geblieben, weil er neugierig war auf Schäufele und Spätzle. Und ich bin neugierig, was wohl Herrgottsbescheißerle sind. Kann man das wirklich essen?